Wenn Peter Wohlleben bei Markus Lanz die Blattläuse zu „Milchkühen“ macht

Medien, Buchindustrie und Bestsellerautoren verfälschen ökologische Zusammenhänge, weil es populär ist – und blockieren so eine dringend notwendige Aufklärung

Keine andere ökologische Beziehung zwischen verschiedenen Tierarten wird in der Öffentlichkeit so häufig und so drastisch verfälscht, wie die mutualistische Symbiose zwischen Ameisen und Blattläusen. In seriösen Fachkreisen ist es längst weitestgehend Konsens, dass die Läuse die Initiatoren sind und mittels ihrer für sie selbst ansonsten nutzlosen Fäkalien die Ameisen gezielt anlocken. Die vielfach dokumentierten Vorteile liegen darin, dass die Ameisen wie Leibwächter, Müllentsorger, Umträger und manchmal sogar Winterwirte fungieren. Die Nachteile sind dagegen meist nachrangig, etwa wenn ein kleiner Teil der Läuse gefressen wird.

In fachlichen Diskussionen geht es oft um Fragen dazu, wie die – ausweislich von Bernsteineinschlüssen seit über 40 Millionen Jahren praktizierte – Lockung über die stoffliche Zusammensetzung der Fäkalien gesteuert wird. Manche Lausarten verzichten ganz darauf, weil sie die Ameisen nicht als Leibwächter benötigen oder deren Besuche mehr Nachteile als Vorteile brächten. Andere hingegen sind auf eine Lebensweise eingestellt, in der die Ameisen besonders nützlich wirken und haben deswegen in der Evolution hocheffektive Lockstoffe hervorgebracht. Folgend ein Auszug aus einem typischen Fazit einer solchen empirischen Studie [1] :

“Daraus folgt, dass Blattläuse, die sich von tieferen Phloem-Elementen ernähren, als evolutionäre Reaktion auf die Neigung zusätzliche Merkmale entwickelt haben, um Ameisen besser anzulocken. Mehrere dieser Merkmale wurden bereits identifiziert. So scheinen bedrohte Blattläuse die Qualität und Quantität ihres Honigtaus anzupassen, um erfolgreich Ameisen anzulocken (Takeda et al. 1982; Fischer und Shingleton 2001; Yao und Akimoto 2001). Insbesondere erhöhen die Blattläuse die Honigtaukonzentration von Melezitose, einem für Ameisen besonders attraktiven Trisacharid (Fischer und Shingleton 2001).”

So und ähnlich verlaufen also die Fachdiskussionen. Wer nun aber in den Medien der breiten Öffentlichkeit oder auch ungezielt im Internet sucht, der wird überflutet von grundlegenden Falschdarstellungen. Meist handelt es sich dabei um Behauptungen, nach denen die Ameisen die Läuse „halten“ und „melken“, so wie es der aktuelle Mensch mit „Milchkühen“ tut.

Um dieses Phänomen der Realitätsverdrehung an einem konkreten Beispiel tiefer zu analysieren, eignet sich eine Ausgabe der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ [2]. Als Hauptgast direkt neben dem Moderator plaziert, stellte der von vielen Leitmedien zum „Naturerklärer der Nation“ gepushte Förster und Bestsellerautor Peter Wohlleben ein Buch mit dem Titel „Das Geheime Netzwerk der Natur“ vor. Dabei sprach er auch über die Beziehung von Ameisen und Blattläusen. Die Szene wirkte vorgeplant, Lanz strahlte Begeisterung aus. Folgend ein Auszug:

Lanz: “Wir haben Bilder dazu gefunden übrigens, …

Wohlleben: “Ja …

Lanz: “… die haben wir noch gar nicht gezeigt. Vielleicht können wir die mal kurz zuspielen. Es ist faszinierend, das zu sehen. Erklären Sie einmal, Herr Wohlleben, was wir da sehen.”

Wohlleben: “Also das sind Ameisen, die halten Blattläuse als Vieh.”

Lanz: “Als Vieh?”

Wohlleben: “Als Vieh, ja, …”

Lanz: “Als Haustiere, als …?”

Wohlleben: “… so ein großes Ameisenvolk kann bis zu 200 Liter Blattlausflüssigkeit, ähm, zu sich nehmen, und äh … melkt sie dazu wie Kühe, indem sie die Hinterleibe betrillert, ne, da kommt so ein Tröpfchen heraus.

Wohlleben betonte auch im weiteren Gesprächsverlauf mehrmals, dass die Läuse eben „gehalten“ werden, obwohl ihm als studiertem Forstingenieur bekannt sein sollte, dass im gegenständlichen Fachterminus aus guten Gründen von „besuchen“ gesprochen wird. Die gezielte Überbetonung des Wortes „halten“ ist unverkennbar:

Wohlleben: “Jetzt könnte man sagen, der Baum habe kein Interesse, dass Ameisen dort Blattläuse halten. Mittlerweile weiß man, doch die haben daran Interesse, dass Ameisen dort Blattläuse halten.

So hat also der vermeintliche Naturerklärer mehreren Millionen Laien mit großem Nachdruck versichert, dass es in der Natur das gleiche Schema der dauerhaften Gefangenhaltung gibt, welchem auch die Lebensmittel in ihren Kühlschränken entstammen. Tatsächlich aber wurde außerhalb der Wirkungen der menschlichen Zivilisation noch nie ein entsprechendes Beispiel empirisch nachgewiesen. Es gibt demnach in der Natur keine lebenslange Gefangenhaltung und im Übrigen auch keine echte Zucht zwischen verschiedenen Spezies. Wie hier im ZEIS Magazin ausführlich nachgewiesen, liegt der Grund für dieses Fehlen in festen Ordnungen innerhalb des Ökosystems. Die menschliche Zivilisation steht deswegen mit ihrer Landwirtschaft auf einem Fundament, das diesen Ordnungen zuwiderläuft und nicht nachhaltig funktionieren kann. Mit Blick darauf, dass diese Methode aktuell auch noch ungebremst eskaliert, wie etwa in Massentierhaltung, Hochleistungspflanzenzucht und Agrargentechnik, wäre eine Aufklärung darüber dringend geboten.

Wohlleben hat somit weit über das Ameisen-Blattlaus-Verhältnis hinaus einer solchen Aufklärung über fundamentale ökologische Zusammenhänge entgegengewirkt. Widerstände waren dabei allerdings nicht zu erwarten. Im Gegenteil, er hat das geliefert, was das Publikum zum Zwecke der kognitiven Spannungsreduzierung dringlich begehrt: nämlich eine erleichternde Legitimation der den Menschen unterbewusst durchaus erkenntlichen Widernatürlichkeit des zivilisatorischen Umganges mit den gezüchteten und versklavten Lebewesen. Wenn es in der Natur genau das gleiche Schema gibt, dann ist es ja gar keine Widernatürlichkeit. Und wenn ein großes Ameisenvolk aus den „gehaltenen“ und „wie Kühe gemolkenen“ Läusen satte 200 Liter herausholen kann, ist dann nicht sogar auch die industrialisierte Massentierhaltung doch eigentlich eine recht natürliche Angelegenheit? So mancher Vertreter dieser Branche wird wohl beim Zuschauen gejubelt haben.

Nun entsteht die Frage nach dem Warum. Warum macht der angebliche Naturerklärer sowas? Es kann ihm nicht entgangen sein, dass die Läuse mittels ihrer für sie ansonsten nutzlosen Fäkalien die Ameisen gezielt anlocken. Er muss auch wissen, dass die Milch der Kühe nur zum Zwecke der Nährung des eignen Nachwuchses entstanden ist und es somit keinerlei echte Parallelen zwischen Läusen und „Milchkühen“ gibt. Also warum?

Eine einfache Antwort könnte darin liegen, dass er selbst „Nutztierhalter“ ist. Ausweislich anderer Interviews hält oder hielt er auf seinem Anwesen verschiedene Tiere. Verspürte er einen Drang zur Legitimierung der eigenen Handlung? Mit Blick auf die penetrante Vehemenz seiner Falschdarstellung vor einem Millionenpublikum erscheint dies als alleiniges Motiv wenig wahrscheinlich.

Viel wahrscheinlicher ist ein anderes Ziel: Nämlich den potenziellen Käufern seiner Bücher etwas zu liefern, das sie genauso haben wollen. So funktioniert nämlich das entscheidende Erfolgsrezept populärer Bücher. Dem Publikum wohltuende Darstellungen sind der Schlüssel zum Erfolg, auf den Wahrheitsgehalt kommt es da nicht so sehr an. Schon in dem Jahrtausende alten Weltbestseller Nr.1 wurde dieses Rezept angewendet, indem gleich auf den ersten Seiten die Menschen als Ebenbild Gottes und die Unterwerfung anderer Lebewesen als von diesem angeordnete Handlung dargestellt wurden, sie also legitimierte.

Wenn Wohlleben dem Millionenpublikum die Wahrheit erklärt hätte, dass also der Ameisen-Blattlaus-Mutualismus etwas grundlegend anderes ist als das Verhältnis von Mensch zu „Milchkuh“ und dass es in der Natur auch generell keine lebenslange Gefangenhaltung gibt, dann wäre dies zutiefst unpopulär und somit auch schädlich für den Erfolg des neuen Buches gewesen. Denn er hätte damit ja eine im Laienpublikum weit verbreitete künstliche Legitimation zerstört und durch die indirekte Aufdeckung der Widernatürlichkeit der zivilisatorischen Nahrungsbeschaffung erhebliches Unwohlsein produziert.

Eine weitergehende Reflexion führt zu Indizien dahingehend, dass Wohlleben gar nicht der Initiator der Verfälschung war. Mitunter wird ihm eine gewisse Naivität nachgesagt, so dass ohnehin schwer vorstellbar ist, dass er sich solche medialen Strategien ausdenkt. Und es gibt Spuren, die darauf hindeuten, dass er sogar gewissermaßen ein Opfer der Massenbuchindustrie geworden ist. Früher veröffentlichte er in kleineren Verlagen Natur-Bücher und achtete dabei meist darauf, dass diese aus reinem Recyclingpapier produziert wurden. Diese damaligen Werke verkauften sich kaum. Irgendwann kam er in Kontakt mit einer auf das Massengeschäft ausgerichteten Literatur-Agentur, in der man die Rezepte der Popularität sehr gut kennt. Seitdem ist er erfolgreich. Aber seine nun vielen Millionen Bücher wurden meist nicht mehr auf solchem Recyclingpapier gedruckt. Man kann nur ahnen, wie Wohlleben – wahrscheinlich gebunden durch Verträge – in manch stiller Stunde mit sich ringt, angesichts der Tatsache, dass sogar sein Massenbuch über „das geheime Leben der Bäume“ auf gefällten Bäumen gedruckt wurde. Wirklich gewollt haben kann er das nicht. Seine einstigen Prinzipien scheinen in die Mühlen der Massenbuchindustrie gezogen und zermalmt worden zu sein.

Ganz ähnlich könnte es auch rund um die besagte Sendung passiert sein. Sehr wahrscheinlich gab es im Vorfeld Besprechungen mit seiner Agentur oder dem Verlag – auch um eine möglichst populäre Themenstrategie festzulegen. Dies würde die arg künstlich wirkenden Überbetonungen von „Vieh“ und „halten“ erklären. Wenn es tatsächlich so ablief, dann hätte die Massenbuchindustrie Wohlleben nicht nur – gegenläufig zu seinen einstigen Prinzipien – zum Zerstörer von zahlreichen Bäumen gemacht, sondern auch zum Blockierer einer längst überfälligen Aufklärung über die Realität der freien Natur und auch noch zum indirekten Unterstützer der von ihm eigentlich verurteilten Massentierhaltung.

Die Mühle, in die Wohlleben da mutmaßlich reingezogen wurde, ist sehr weitläufig. Zu ihr gehören auch die führenden Leitmedien. Wenn sie jemanden zum Naturerklärer der Nation pushen, dann muss er sich populär verhalten. Echte Aufklärung ist deswegen nicht erwünscht. Wie hier im ZEIS Magazin und in den Büchern des ZEIS Verlages vielfältig dokumentiert, sind die großen Massenmedien aktuell sogar die wichtigsten Verhinderer einer solchen Aufklärung. Dabei agieren die Redakteure und Journalisten nicht nach einem Plan. Sondern zum einen suchen sie selbst als Individuen nach Möglichkeiten der Verdrängung der auch von ihnen unterbewusst erkenntlichen Widernatürlichkeit von Zucht und Versklavung anderer Lebewesen. Und durch ihren Beruf haben sie, ohne darüber nachdenken zu müssen, ein sensibles Gespür dafür, was das Publikum hören und sehen möchte und was nicht.

Deswegen wird die eskalierte Massentierhaltung fast vollständig ausgeblendet und der Mensch als edler Behüter niedlicher Eisbärenbabies oder Retter verunglückter Enten präsentiert. Und genauso gehört es in diesem Rahmen auch zu den „Aufgaben“, die Verdrehung des Ameisen-Blautlaus-Mutualismus und anderer ökologischer Beziehungen tatkräftig zu unterstützen, sobald sich eine solche Gelegenheit bietet.


[1] THE ORIGIN OF A MUTUALISM: A MORPHOLOGICAL TRAIT PROMOTING THE EVOLUTION OF ANT-APHID MUTUALISMS
Alexander W. Shingleton,1,2 David L. Stern,1 and William A. Foster3
Evolution. 2005 Apr; 59(4): 921–926. (Übersetzung: ZEIS Verlag)
[2] Sendung „Markus Lanz“, ZDF, 12.09.2017
Foto: Auszug Screenshot aus der Sendung „Markus Lanz“, ZDF, 12.09.2017